Im Namen der Straße

Ein Projekt zur Heimatgeschichte in Bischofsheim

Von Professor Dr. Wolfgang Schneider

 

Namen für Straßen entstanden zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert, auch um sich in den wachsenden Kommunen orientieren zu können.  Die Geschichte zeigt, dass es unterschiedliche prägende Muster gab, nach denen Straßen benannt wurden. Im Mittelalter gab es meist zahlreiche kleine Gassen, und in jeder war eine andere Handwerkszunft oder Bevölkerungsgruppe zu Hause. So trifft man noch häufig auf Straßennamen wie Schustergasse, Fleischergasse, Krämergasse oder Müllergasse. 

 

In Bischofsheim sind die Straßen nach Städten der näheren (Hochheimer Straße) oder weiteren Umgebung (Berliner Straße) und Regionen (Rheingauweg) oder vor allem nach Gewannbezeichnungen (Im Wingertspfad) benannt. Die älteste Straße ist wohl die Untergasse, die sicher so benannt wurde, weil sie im alten Ortskern auch die tiefst gelegene war – was vor allem bei Hochwasser Auswirkungen zeigte. Wir wissen, dass Bischofsheim eine Vor- und Frühgeschichte hat, Funde aus der Steinzeit, aus der Bronzezeit und aus der Eisenzeit belegen dies; ebenso Überreste der Kulturen der Kelten, der Römer, der Franken und der Alemannen, denen im Klinker je eine Straße gewidmet wurde. Es gibt aber auch Straßen, die tragen Namen von Persönlichkeiten. Und obwohl wir uns tagaus tagein mit einer Adresse identifizieren, wissen wir manchmal wenig von den Menschen hinter den Straßennamen. 

 

Zwei Dutzend Mal kann man fündig werden. Die Namensgeber galt es, zum besseren Verständnis in thematische Gruppen einzusortieren. „Im Namen der Straße“ nannte sich ein weiteres Projekt des HGV zur Beforschung unserer Heimat und berichtet von virtuosen Musikern und populären Poeten, von Dichtern und Denkern sowie genialen Erfindern, von politischen Akteuren: großen Sozialdemokraten, Bischofsheimer Bürgermeistern und Autokraten wie Kanzler Bismarck oder Kaiser Wilhelm; 23 Männer und nur eine Frau! Die Untersuchung war ein Gang durch die Geschichte. In Straßennamen drückt sich die Geisteshaltung einer Zeit aus; denn sie erzählen vom Leben. Und woran man sich erinnern will – und woran nicht. Sie sagen etwas darüber aus, womit sich die Menschen an einem Ort identifizieren. Die Texte entstammen den Kolumnen aus der Zeitung „Neues aus der Mainspitze“ und wurden mit Fotos und Illustrationen auch im „Bischofsheimer Kalender 2023“ veröffentlicht.

Von den Geschichten hinter der Geschichte

Einerseits ist man erstaunt, wie wenig im Gemeindearchiv zu finden ist. Andererseits war es erfreulich, die Sachkunde vom mittlerweile verstorbenen Volker Schütz, Sprecher des Heimat- und Geschichtsvereins, vom ehemaligen Heimat- und Kulturpfleger der Gemeinde, Bernd Schiffler, und aus der Kulturverwaltung im Rathaus von Dietmar Zaia nutzen zu dürfen. Die vielen Gespräche mit Gewährsleuten, die in Verbindung zu den Namen der Straßen stehen, waren ebenso Grundlage der Untersuchung. Über Klaus Hahn habe ich von der Existenz eines Buches erfahren, das Georg Fischer 1945 zum Abschied als Bürgermeister gewidmet wurde und von der Ortsentwicklung „in schwerer Zeit“ berichtet. Bei Werner Wiesenecker, dem Urenkel eines anderen Ortsoberhauptes, entdeckte ich ein Originalgemälde des Gasthauses zur Krone von Lehrer und Künstler Heinz Langer, welches er zum 25-jährigen Jubiläum dem Museum gestiftet hat.

 

Eine der Quellen ist immer wieder der „Lokal-Anzeiger für die Mainspitze“,

90 Jahre gebundene Ausgaben. Ein Gewinn für die Heimatkunde! Nicht alle Fragen lassen sich durch die Lektüre von Nachrichten und Berichten beantworten, aber die Zeitung ist ein außerordentlicher Fundus für die Geschichte hinter den Geschichten. Adam Horst hat beispielsweise einmal von „Vergessenen Bischofsheimer Straßennamen“ geschrieben und erwähnt dabei eine „Schustergasse“, die nur im Volksmund so genannt wurde und die mit der Dichte von Schuhmachermeistern in der Taunusstraße zu erklärt wird. „Es gab dort einen Ritzert-Schuster, einen Beste-Schuster, einen Dietrich-Schuster, einen Wüste-Schuster, einen Mayer-Schuster und einen Raal-Schuster.“ Und fügt in seiner humorigen, aber eben auch kenntnisreichen Art hinzu: „Letzterer schrieb sich zwar Astheimer und war, obwohl gelernter Schuhmacher, im Hauptberuf Eisenbahner.“

 

Man erfährt auch von Straßennamen, die es gar nicht mehr gibt; was auch etwas mit der politischen Dimension des Forschungsgegenstandes zu tun hat. Mit Verfügung des Oberbürgermeisters von Mainz wurden am 5. August 1933 Straßen in den eingemeindeten Vororten umgewidmet. In Bischofsheim gab es zum Beispiel eine Straße für Walter Rathenau (die heutige Röntgenstraße), dem liberalen Außenminister in der Weimarer Republik, der von Rechtsradikalen ermordet wurde. Die Nazis änderten sie in „Scapa-Flow-Straße“ nach der englischen Bucht, in der die deutsche Marine nach verlorenem Ersten Weltkrieg ihre eigene Flotte versenkte. Die Friedrich-Ebert-Straße wurde nach Admiral Schröder, der Attich nach Admiral Graf Spee, die August-Bebel-Straße nach Otto Weddigen umbenannt, allesamt Militärs des untergegangenen Kaiserreichs und als „Kriegshelden“ verehrt. Am 31. Mai 1934 wurde zudem auf dem „Skagerrak-Platz“ (neben der ehemaligen Gewerbeschule und heutigen Polizeistation) ein Denkmal des „Marinevereins“ zur Erinnerung an eine Seeschlacht im Jahre 1916 mit mehr als 8000 Toten errichtet. 

 

Heimatliche Forschungen zur kulturellen Bildung  

Zu der oft geführten Debatte, ob man Straßen umbenennen oder ihre Beziehungen beibehalten und durch einen historischen Kontext ergänzen soll, gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Bismarckstraße braucht beides, den kritischen Diskurs um den Namensgeber und biografische Hinweise auf einer Tafel am Straßenschild. Und das wäre auch eine Konsequenz aus den Heimatforschungen, mit Informationen das historische Bewusstsein der Bürger kulturell zu bilden. In der Kolumne über die Georg-Mangold-Straße wird nicht nur auf das Fehlen eines Hinweises zum Volksschullehrer aufmerksam gemacht, sondern auch auf die Tatsache, dass es noch immer keine Biografie über den Heimatforscher. Zudem wird dort folgende Spekulation formuliert: „…vielleicht kann ja auch beim derzeitigen Neubau von Ratsstube und Schulmensa Georg Mangold eine Rolle spielen…“ Mittlerweile haben Kreis und Ausbildungsverbund Metall als Bauträger beschlossen, das neue Restaurant „Das Mangold“ zu benennen – was sich auch in den Räumlichkeiten widerspiegeln soll.

 

Die Gemeinde kann zudem anlässlich von Jahrestagen öffentliche Aufmerksamkeit für Geschichte erzeugen. Wie könnte kommunale Kulturarbeit die Kunst von virtuosen Musikern wie Mozart, Beethoven oder Schubert und der Dichter und Denker Goethe, Schiller, Geibel, Freiligrath und Kant pflegen? Vielleicht mit Straßenmusik oder literarischen Interventionen, einmal im Jahr, etwa am 23. April, dem Welttag des Buches oder am 21. Juni, der bundesweit der Musik gewidmet ist: Bischofsheim liest und singt, im Namen der Straße. Die Probe aufs Exempel hat die Gemeinde bestens bestanden. Beim 1. Bischemer Kultursommer fanden die Schubert-Lieder in der Schubert-Straße der Gesangvereine Germania und Liederkranz großen Zuspruch, 2023 inszenierten Handharmonika-Spielring und der Gesangverein Liederkranz zusammen mit den Solistinnen Karin Wehner und Nora Weinand Musik von Mozart in der Mozart-Straße und beim 3. Bischemer Kultursommer wurde der 275. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe mit Texten, Wein und Liedern, dargeboten von Sound of Musicals, am Ende der Goethe-Straße gefeiert.

 

Eine Konsequenz aus der Forschungsarbeit ist evident: Endlich die Gleichberechtigung in der Gedenkkultur zu realisieren! Die nächsten Benennungen von Straßen in Bischofsheim gebührt den Frauen! Vielleicht könnte sich die Gemeinde in Kommunalpolitik und Zivilgesellschaft schon jetzt mal Gedanken machen…

Quellen: Unter Verwendung von Informationen zur Ausstellung „Ehre, wem Ehre gebührt!? Personenbezogene Straßennamen in Aschaffenburg“ des Stadtarchivs Aschaffenburg 2023; Dirk Stolper: Namen im öffentlichen Raum. Abschlussbericht der Historischen Fachkommission zur Überprüfung nach Personen benannter Verkehrsflächen, Gebäude und Einrichtungen der Landeshauptstadt Wiesbaden, Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden, Band 17, 2023; „How-to Straßennamen“, Handreichung zur Erkundung örtlicher Erinnerung, Fernuniversität Hagen 2024; sowie der freien Enzyklopädie Wikipedia

 Dr. Hans-Böckler-Platz in den 1950er Jahren // © Bernd Claas


Erstens

Prominente Sozialdemokraten: Bebel, Ebert, Böckler

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ steht auf der roten Fahne, mittendrin im Eichenkranz das Symbol der Arbeiter-Verbrüderung, die verschlungenen Hände, und darunter steht zu lesen: „Einigkeit macht stark!“ Das Stück Stoff hat Tradition und dokumentiert die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins durch Ferdinand Lasalle am 23. Mai 1863 und die Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie. Als einheitliches Identifizierungssymbol weltweiter Arbeiterbewegungen wird sie in vielen Arbeiterliedern zitiert. Bekanntestes Beispiel dafür ist die italienische Variante „Bandiera rossa“, vielleicht die originellste „The people's flag is deepest red“ der britischen Labour-Partei, die zur Melodie des deutschen Weihnachtsliedes „O Tannenbaum“ gesungen wird. Schon in der vom Dichter Ferdinand Freiligrath 1848 für die Revolutionsfeier gereimte Text „Reveille“ („Aufwachen“) hieß es im Refrain: „Und unsre Fahn ist rot!“ und reimte sich auf „Marsch - wär’s zum Tod“! Auch Freiligrath fand seine Ehrung im Namen einer hiesigen Straße.

 

Hans Böckler kämpfte für die soziale Gerechtigkeit

Den Protagonisten der Roten sind auch in Bischofsheim Straßen gewidmet, sicherlich auch Tatsache geschuldet, dass die älteste demokratische Partei Deutschlands in den Jahren nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg als stärkste Fraktion die kommunale Politik in der Gemeinde gestaltet hat.

In der Serie des Lokal-Anzeigers von 1941 ist von einer neuen Siedlung jenseits der Bahn zu lesen. „Hier finden wir die schön asphaltierte mit 22 Häusern bestandene Südtiroler Straße“, die im Nachkriegs-Hessen in Rüsselsheimer Straße umgetauft wurde. Am 12. Mai 1951 kam Ministerpräsident August Zinn (SPD) zu einem „Richtfest“ in die Siedlung, die durch Gemeinderatsbeschluss nach Dr. Hans Böckler (SPD) benannt und vom damaligen Bürgermeister Karl Graf (SPD) eingeweiht wurde. Seitdem heißen auch eine Straße und der Platz mittendrin nach Johann Georg Hans Böckler (1875 – 1951). 

Hans Böckler © Stadt Köln

Hans Böckler bei der Grundsteinlegung einer nach ihm benannten Siedlung in Neumünster, 1950

Briefmarke der Deutschen Bundespost zum 100. Geburtstag, 1975

Nach einer Lehre als „Silber- und Goldschläger“ begab er sich als Geselle auf „Wanderschaft“ und trat mit 19 Jahren in die SPD ein, wurde 1902 Bevollmächtigter des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes und 1910 Bezirksleiter in Schlesien. 1914 bis 1915 war er Soldat und wurde an der Ostfront schwer verwundet. 1920 wird er wieder Gewerkschaftssekretär, 1924 in die Stadtverordnetenversammlung von Köln gewählt und traf dort auch erstmals auf den Zentrumspolitiker Konrad Adenauer, den späteren Oberbürgermeister. 1928 wird er Mitglied der SPD-Fraktion im Reichstag von Berlin für den Wahlkreis Köln-Aachen. 1933 wird die SPD verboten und die Gewerkschaften werden aufgelöst. SA-Männer verwüsten sein Wohnung und er wird mehrfach in „Schutzhaft“ genommen. Nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 muss Böckler bei einem befreundeten Bauern untertauchen, da er Kontakte zum Widerstandskreis um den Genossen und Gewerkschafter Wilhelm Leuschner unterhält.

 

1945 ist er Mitglied im Ausschuss für eine Einheitsgewerkschaft und wird Vorsitzender des Gewerkschaftsrates der britischen und amerikanischen Zone. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes entsteht die Bundesrepublik Deutschland 1949 und im gleichen Jahr wird Hans Böckler der erste Vorsitzende des bei einem Kongress in München gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbundes. Am 25. Januar 1951 gelang es ihm in einem Spitzengespräch mit dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer, die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie durchzusetzen. 

Drei Wochen später verstarb, der mit der Ehrendoktorwürde der Universität und Ehrenbürgerwürde der Stadt Köln Geehrte, an einer schon länger währenden Herzkrankheit. Der Grabstein von Dr. Hans Böckler, der ein Leben lang für die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit gekämpft hat, besteht aus einem steinernen Zahnrad und darauf ist ein Vers aus dem sogenannten „Bundeslied“ des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aus der Feder des revolutionären Dichters Georg Herwegh zu lesen: „Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“

 

1952 gründete sich die Siedlergemeinschaft, die sich bis zum heutigen Tag um das Gemeinwohl in der Dr. Hans-Böckler-Siedlung kümmert. Dort „siedelten“ Geflüchtete und Vertriebene, Arbeiter der MAN, Bahner und Opelaner. Die Häuser entstanden zumeist in Selbsthilfe, erzählt Staatsanwalt a.D. und bekennender „Böckler“ Manfred Stotz, die Gärten dienten der Selbstversorgung. Und was es dazu braucht, das finden die „Siedler“ in den Garagen auf dem Hans-Böckler-Platz, ergänzt Udo Finkenauer, Ehrenvorsitzender jenes Vereins, der sich früher durch Feste und Flohmärkte die Finanzierung eines kleinen Fuhr- und Geräteparks ermöglichte. Mit Böckler verbindet sie Solidarität und Partizipation.

Grabstätte von Dr. Hans Böckler auf dem Kölner Friedhof Melaten mit Trauerkränzen der Stadt zum 69. Todestag des Ehrenbürgers im Jahre 2000

© Katharina Grünwald, Landschaftsverband Rheinland

 

August Bebel forderte die Gleichberechtigung der Frau

Namensgeber der August-Bebel-Straße, von der Ginsheimer parallel zur Darmstädter bis zur Ringstraße war der Politiker und Publizist (1840 – 1913), ab 1892 neben Paul Singer bzw. Hugo Haase bis zu seinem Tod einer der beiden Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Über seine Motivation, sich auch als Unternehmer zu betätigen, äußerte sich Bebel in einem Brief an Friedrich Engels, der aus ähnlichen Gründen selbst über lange Jahre ein erfolgreicher Großkaufmann war, „denn gelingt es mir, eine unabhängige Stellung in geschäftlicher Beziehung zu schaffen, kann ich umso ungehinderter auch für die Partei eintreten.“ 

 

Bebel hatte sein eigenes Kommunikationssystem in jener Zeit, in der es weder Radio, Fernsehen oder gar Internet gab. Aber das Wort wurde gedruckt und fand somit Verbreitung. Einflussreichstes Werk war „Die Frau und der Sozialismus“ (1879) mit zahlreichen Neuauflagen bis in die Gegenwart. Darin fordert er die berufliche und politische Gleichberechtigung der Frau. Er verband seine Schilderung der Lage der Frau im Zeitverlauf mit der Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Erst eine sozialistische Gesellschaft bringe das Ende der Frauendiskriminierung. 

 

Das von Reichskanzler Otto von Bismarck (auch an ihn wird im Namen einer hiesigen Straße erinnert) initiierte Sozialistengesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, traf auch Bebel, der verfolgt und angeklagt wurde und oft und für längere Zeit in Haft musste. Denn er war bekannt dafür, seine revolutionären Ideale versiert in Versammlungen vorzutragen. Wo Bebel öffentlich auftrat, zog er regelmäßig tausende von Zuhörern in Bann. Und da wo er nicht dabei sein konnte, hatten er und seine Partei sogenannte Agitatoren, die soziale Aufklärungsarbeit leisteten und demokratische Ziele propagierten. Der Großvater meiner Frau, Otto Soltau, war in seinen jungen Jahren auch so einer, und es wurde in der Familie wertschätzend von seinen Fähigkeiten gesprochen, komplexe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Vor allem schwärmte man aber von seinen vielen Reisen durchs Land. Aus dem Politiker wurde allerdings im Predigerseminar ein Pastor - aber die müssen ja auch reden können.

 

Friedrich Ebert repräsentierte die erste deutsche Demokratie

Aus der August Bebel-Straße machten die Faschisten bereits 1933 eine Otto-Wediggen-Straße, nach einem U-Boot-Kommandanten im Ersten Weltkrieg, der „an einem Tage drei große britische Kreuzer versenkte und damit den Engländern eine gewaltige Schlappe beibrachte“, wie der Lokal-Anzeiger mitten im Zweiten Weltkrieg am 3. April 1941 im nationalistischen Duktus berichtete. Und auch einem anderen Sozialdemokraten geschah eine solche Entehrung: Friedrich Ebert, dem die Straße zwischen Darmstädter und damals nur bis zur Fronseestraße gewidmet wurde, für deren Umbenennung nach einem weiteren Militaristen in „Admiral-Schröder-Straße“ der NSDAP-Ortsvorsteher verantwortlich war. Interessant was dazu auch noch im Lokal-Anzeiger zu lesen ist: „Am Dienstagnachmittag wurde an Häusern der Friedrich-Ebert-Straße Schilder mit der Aufschrift Adolf-Hitler-Straße angebracht.“ Das war selbst den gerade erst zur Macht gelangten Nazis zu viel, so dass sie diese fanatische Initiative Bischofsheimer Bürger rückgängig machten.

 

Friedrich Ebert (1871 – 1925) war erster Reichspräsident der Weimarer Republik und hat soziale Gerechtigkeit zum Lebensziel gemacht. „Für Ebert konnte es keine Demokratie ohne Freiheit geben“, schreibt die Frankfurter Rundschau anlässlich seines 150. Geburtstags am 4. Februar dieses Jahres. Die Durchsetzung einer neuen Verfassung mit der Einführung des Wahlrechts für Frauen und die Stärkung des Parlamentarismus gehen auf sein Konto. Dafür erntete er die Häme der rechtsbürgerlichen Zeitungen und die Hetze von Adel, Militär und Großbürgertum, die nicht akzeptieren konnten, wer nun nach Kaisern und Kriegen der erste Mann im Staate war: „ein Sohn aus einer kinderreichen Handwerkerfamilie, der seine Sattlerlehre abgebrochen, als Wandergeselle das Land durchreist und eine Gastwirtschaft gepachtet hatte. Und Mitglied der kürzlich noch als „Vaterlandsverräter“ diffamierten Sozialdemokraten war. Die „First Lady“: eine ehemalige Arbeiterin.“

 

Nach Friedrich Ebert ist nicht nur eine Straße in unserer Gemeinde benannt, sondern auch die politische Stiftung der SPD. Der derzeitige Vorsitzende, Martin Schulz, antwortete dem „Vorwärts“, die von August Bebel begründete traditionsreiche Parteizeitung, auf die Frage, was ihn mit dem Namensgeber verbinde: „Seinen mit einem ganz hohen persönlichen Preis bezahlten Kampf für die republikanische Verfassung Deutschlands und die Würde, mit der er dieses Deutschland vertreten hat; aber auch die Würde, mit der er den grenzenlosen Hass der extremen Rechten gegen sich ertragen hat.“

 


Zweitens

EINE FRAU, ANSONSTEN NUR MÄNNER: ELEONORE

Gegenstand dieser Heimatforschungen sind jene Menschen, nach denen in Bischofsheim eine Straße (oder ein Platz) benannt wurden. 23 davon sind Männer, aber nur eine Straße ist einer Frau gewidmet. Das über Jahrhunderte gepflegte Patriarchat scheint sich also auch im lokalen Gedenken widerzuspiegeln; von Gleichberechtigung kann keine Rede sein. Deshalb widmet sich diese Folge von „Im Namen der Straße“ der Eleonorenstraße, oder genauer formuliert: Eleonore Ernestine Marie Prinzessin zu Solms-Hohensolms-Lich, Großherzogin von Hessen und bei Rhein  – in der Hoffnung auf weitere Straßennamen nach weiblichen Persönlichkeiten. Aber so ganz ohne Männer lässt sich die Geschichte nicht erzählen.

 

Foto: Eleonore Großherzogin von Hessen und bei Rhein © Stadtarchiv Darmstadt

 

Zur Eleonorenstraße (von der Dammstraße bis zum Mainweg) gehört nämlich auch die Ludwigstraße (zwischen Mainstraße und Altem Gerauer Weg). Ludwig hießen die Herrscher von Hessen (und von Bischofsheim). Das Großherzogtum bestand von 1806 bis 1919. Es ging aus dem Reichsfürstentum der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt hervor. Die regierenden Fürsten entstammten dem Haus Hessen und führten nach der Erweiterung ihres Herrschaftsgebietes um die linksrheinischen Gebiete (von Worms bis Mainz) in Anlehnung an die ehemalige Pfalzgrafschaft den Titel „Großherzog von Hessen und bei Rhein“. Politisch waren die Ludwige allesamt umstritten. Die Unterdrückung politischer Diskussionen beispielsweise durch den leitenden Minister Karl du Thil dominierte Mitte des 19. Jahrhunderts die Macht des Großherzogtums. Zudem herrschten nach Missernten und vervielfachten Preisen für Grundnahrungsmittel katastrophale Zustände im Lande. Dem Widerstand gegen das reaktionäre „System du Thil“ entstammen übrigens die ersten literarischen Werke des in Goddelau geborenen revolutionären Dichters Georg Büchner.

 

Postkarte zur Verlobung von Eleonore und Ernst Ludwig © Stadtarchiv Darmstadt

„Der lange Ludwig“ blickt auf seine Untertanen

Der Großherzog war das Staatsoberhaupt, das „alle Rechte der Staatsgewalt“ innehatte, und seine Person war „heilig und unverletzlich“, wie es von „Gottes Gnaden“ beschlossen und verkündet wurde. Die Hymne der Hessen, deren Melodie derjenigen von „God save the Queen“ beziehungsweise „Heil dir im Siegerkranz“ entsprach, dokumentierte die Herrschaftsverhältnisse und lautete: „Heil unserem Fürsten, Heil, Heil Hessens Fürsten, Heil, Ludwig Heil! Herr Gott, dich loben wir, Herr Gott wir flehn zu Dir: Segne ihn für und für, Ludwig Heil!“. Alle Großherzoge hießen Ludwig, der Erste, der Zweite, der Dritte, der Vierte und der Fünfte Ernst Ludwig. Dem Ahnen hat man in Darmstadt ein Denkmal gebaut, das im Volksmund „Der lange Ludwig“ genannt wird, weil man 40 Meter hoch schauen muss um die Bronzestatue auf dem Sandstein sehen zu können - auch ein Beleg des untertänigen „dankbaren Volkes“, wie man einer Inschrift von 1844 nachlesen kann.

 

Der letzte Ludwig (1868-1937) war zunächst verheiratet mit seiner Cousine Victoria Melita von Edinburgh. Der Weg zur Ehe wurde maßgeblich von der englischen Königin Victoria geebnet, die von einer Verbindung zwischen ihren beiden Enkeln sehr angetan war. Das Paar trennte sich im „verflixten siebten Jahr“. Nach Gerüchten soll Ludwig außereheliche Verhältnisse mit Frauen und Männern unterhalten haben. Nach der Scheidung erfuhren nahe Verwandten, die Gattin habe ihren Mann mit einem männlichen Bediensteten im Bett erwischt und zu einer Nichte soll sie gesagt haben, dass „kein Junge in Sicherheit sei, von den Stallburschen bis zur Küchenhilfe. Er schlief ganz offen mit ihnen allen.“ Über das Doppelleben berichtet auch die Autorin Barbara Hauck in ihrem 2017 erschienenen Buch „Capriolen. Die Männerfreundschaften des letzten hessischen Großherzogs Ernst Ludwig“. 

Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe in Darmstadt © Stadtarchiv Darmstadt

„Das Licher Lorche“ kam, sah und siegte

Vor diesem Hintergrund kommt Eleonore zu Solms-Hohensolms-Lich (1871-1937) ins Spiel, die als „Licher Lorchen“ (wie sie damals von Darmstadts Oberbürgermeister durchaus despektierlich begrüßt wurde) aus der Provinz in die Residenzstand kam, sah und siegte. Verlobung war im November 1904, die Vermählung fand nur zwei Monate später statt. Davon zeugt noch heute ein weiteres Wahrzeichen Darmstadts, das vom Gatten Großherzog angeregte offizielle Geschenk der Stadt: der Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe, mit seinen markanten Bögen des Daches, die an eine ausgestreckte Hand erinnern, weshalb er auch „Fünffingerturm“ genannt wird. Das Jugendstilgebäude ist wie die Bischofsheimer Christkönigskirche aus dunkelroten Klinkersteinen gestaltet und gehört zum Ausstellungskomplex der Künstlerkolonie. 

 

Eleonore, die Mit-Dreißigerin brachte 1906 den erhofften Thronfolger Georg und zwei Jahre später Prinz Ludwig zur Welt. Ihre Popularität als „Landesmutter“ reichte ins ganze Reich, ihr sozialer Einsatz war bestens be- und anerkannt. Die „Ernst Ludwig und Eleonore-Stiftung“ galt zunächst dem Mutterschutz mit Beratungsstellen, Säuglingsstationen und einer Kinderklinik in Gießen. Sie unterstützte Lungenheilstätten, übernahm den Vorsitz des „Frauenvereins für Krankenpflege“, kümmerte sich um Frauenbildung sowie Frauenhilfe und setzte sich für die Betreuung junger alleinstehender, nicht mehr im Elternhaus lebender Frauen ein. Was heute skurril klingen mag, war bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein eine existenzielle Herausforderung. Die unverheiratete, berufstätige junge Frau war ohne den Schutz des Elternhauses vielfältigen Benachteiligungen und oft Übergriffen ausgesetzt – zum Beispiel im Gastgewerbe.

 

Während des Ersten Weltkrieges arbeitete Eleonore inkognito als „Schwester Marie Starkenburg“ etliche Monate in einem Lazarettzug und versorgte vor allem die im Gaskrieg 1916 und 1917 erblindeten Soldaten. Eleonore übernahm 1919 den Vorsitz der deutschen Sektion des „Vereins der Freundinnen junger Mädchen“ und finanzierte viele dieser Aktivitäten aus der großherzoglichen Privatschatulle. Sie verfügte ganz offenbar über großes Geschick im Einwerben von Spendengeldern bei Benefizgalas, insbesondere bei den Angehörigen der Hocharistokratie. Viele Fotos zeigen sie in schönen Kleidern mit schönen Frisuren und schönem Schmuck; offensichtlich wusste „Ihre Königliche Hoheit“ schon damals, was man von einer „Charity Lay“ erwarten konnte. Eine Postkarte aus dem Hessischen Staatsarchiv zeigt sie mit Diamant- und Perlensternen im Haar, die „später für ein neues Diadem in Kokoshnikform, für ihre Schwiegertochter, die Erbgroßherzogin, Prinzessin Cecilie von Griechenland und Dänemark“, Verwendung fand.

 

Briefmarkenserie mit Eleonore und Ernst Ludwig sowie den Söhnen Georg und Ludwig © Stadtarchiv Darmstadt

 

Nach der Novemberrevolution 1918 weigerte sich der Großherzog abzudanken und wurde daher vom Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrat am 9. November 1918 abgesetzt. Hessen wurde damit zum Volksstaat. Die Großherzogin festigte aber weiterhin ihren guten Ruf in der jungen Demokratie durch soziales Engagement. Kurz nach dem Tod ihres Gatten kam Eleonore auf tragische Weise mit ihrem ältesten Sohn Georg Donatus, dessen Gattin und ihren Enkelkindern Ludwig und Alexander am 16. November 1937 bei einem Flugzeugabsturz nahe dem belgischen Ostende ums Leben. Die Familie befand sich auf dem Weg nach London zur Hochzeit des zweiten Sohnes Ludwig. 

 

Post Scriptum. Gleichberechtigung auch in der Gedenkkultur!

Angesichts der vielen Möglichkeiten, durch die Benennung von Straßen nach Personen Geschichte zu vermitteln und z. B. auch bewusstseinsbildend auf gesellschaftspolitische Entwicklungen einzuwirken, ist bei der Benennung von Straßen darauf zu achtet, dass Frauen und Männer gleichberechtigt gewürdigt werden. Denn Straßenschilder markieren öffentliches Gedenken, und dieses hat auch dem Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes zu entsprechen. „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“, heißt es dort und das sollte sich auch selbstverständlich in der Geschichtsaufarbeitung der Kommunen niederschlagen.

Trauerzug durch Darmstadt zur Beerdigung von Großherzogin Eleonore © Stadtarchiv Darmstadt